- Teil 1 – Von Cicero bis Foucault: Die Geschichte des rhetorischen Despotismus
- Teil 2 – Die Architektur der Macht: Foucault und die Ordnung des Sagbaren
- Teil 3 – Worte als Waffe: Propaganda, Psychologie und Massenmedien
- Teil 4 – Die Moral spricht: Sprache als Instrument der Selbstkontrolle
- Teil 5 – Links, Rechts und das semantische Schachbrett
- Teil 6 – Das Zeitalter des semantischen Imperiums
- Theoretische Grundlagen der Macht durch Sprache
- Medien, Propaganda und Diskursmacht
- Politische Rhetorik (links / rechts / populistisch)
- Philosophische und historische Bezüge
- Erweiterte Forschung und Metaphern der Gegenwart
Teil 1 – Von Cicero bis Foucault: Die Geschichte des rhetorischen Despotismus
„Worte sind mächtiger als Waffen, denn sie schaffen die Gründe, warum Waffen gezückt werden.“
— nach Cicero, De Oratore (55 v. Chr.)
© https://gedankenschleife.netDie Geburt der Rede als Herrschaftsform
Schon in der griechischen Polis war Sprache kein Werkzeug der Wahrheit, sondern ein Mittel der Ordnung.
Die Sophisten – Gorgias, Protagoras – lehrten, dass jede Wahrheit nur eine gelungene Rede sei.
Platon verachtete sie dafür: Für ihn war Rhetorik die Kunst, die Seele zu verführen.
Doch die Demokratie Athens lebte genau davon.
Der erste rhetorische Despot war also kein König, sondern der geschickteste Redner.
Cicero und Quintilian professionalisierten diese Macht.
Sie sahen im Redner den Architekten der öffentlichen Moral: Wer sprechen konnte, herrschte.
Cicero schrieb, der Redner müsse „den Willen der Menge formen wie der Töpfer den Ton“.
Schon hier verband sich Sprache mit sozialer Hierarchie – wer das Wort beherrschte, beherrschte die Stadt.
Vom Dogma zum Dekret
Im Mittelalter wanderte diese Macht in die Kirche.
Latein wurde das heilige Monopol – die Sprache der Erlösung und der Autorität.
Predigt ersetzte Philosophie; Rhetorik wurde Moral.
Der Pabst sprach ex cathedra – und das Wort wurde Gesetz.
Die mittelalterliche Welt war ein rhetorisches Reich, in dem Wissen und Wahrheit identisch waren mit der Fähigkeit, sie zu verkünden.
Erst die Aufklärung löste diese Sakralrhetorik auf – scheinbar.
Rationalität, Vernunft, Fortschritt: neue Heilsbegriffe, neue Dogmen.
Voltaire kämpfte mit Ironie, Kant mit Definitionen, Rousseau mit Pathos.
Auch hier herrschte Sprache: nur anders dekoriert.
Die Religion wich dem Logos, doch der Logos blieb Priester.
Das Zeitalter der Propaganda
Mit der Industrialisierung wurde Sprache technisiert.
Zeitungen, Telegraph, Radio – die Stimme der Macht vervielfachte sich.
Der Erste Weltkrieg brachte das, was Walter Lippmann „manufacture of consent“ nannte:
die industrielle Herstellung von Zustimmung.
Edward Bernays, Neffe Freuds, systematisierte diese Kunst:
„Wenn wir den Mechanismus des Gruppendenkens verstehen, ist es möglich, die Massen nach unserem Willen zu steuern.“
So begann das Zeitalter des modernen rhetorischen Despotismus:
nicht mehr Priester oder Fürsten sprachen, sondern Pressestellen.
Die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts perfektionierten dies.
Goebbels’ Ministerium war keine Ausnahme, sondern der Kulminationspunkt.
Das Wort ersetzte die Peitsche: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ war kein Argument, sondern ein performativer Befehl.
Macht, verdichtet in Sprache – die semantische Infrastruktur des Gehorsams.
Vom Knüppel zur Kamera
Nach 1945 glaubte man, die Propaganda sei überwunden.
Doch die neue Medienlandschaft – Fernsehen, Public Relations, Werbung – verfeinerte sie.
Die Gewalt wich der Grammatik.
Macht äußerte sich fortan in dem, was sagbar war.
Hier beginnt das wissenschaftliche Kapitel des rhetorischen Despotismus – mit Michel Foucault.
„In jeder Gesellschaft wird die Produktion von Wahrheit durch Machtmechanismen kontrolliert, ausgewählt, organisiert und verteilt.“
— Michel Foucault, Power/Knowledge (1977)
Foucault ersetzte die Vorstellung eines zentralen Sprechers durch die einer Struktur:
Macht fließt durch Diskurse, nicht durch Dekrete.
Sie bestimmt, welche Begriffe erlaubt, welche Ideen plausibel, welche Gedanken undenkbar sind.
Die Rhetorik wurde unsichtbar – und damit vollkommen.
Heute wirkt diese Ordnung weiter:
im politischen Framing, in wissenschaftlicher Autorität, in moralischer Kommunikation.
Der rhetorische Despotismus ist kein Rückfall in alte Zeiten,
sondern die konsequente Fortsetzung der westlichen Zivilisationsgeschichte –
vom Orator zur Redaktion, vom Altar zum Algorithmus.
Im nächsten Abschnitt untersuchen wir, wie Foucault diese unsichtbare Architektur der Macht beschreibt:
die Ordnung des Sagbaren, das Wahrheitsregime und die subtile Disziplinierung durch Sprache selbst.
Was früher Predigt war, nennt man heute Diskurs.
Teil 2 – Die Architektur der Macht: Foucault und die Ordnung des Sagbaren
„Macht produziert Realität; sie produziert Bereiche der Objekte und Rituale der Wahrheit.“
— Michel Foucault, Überwachen und Strafen (1975)
Wenn man verstehen will, warum Worte heute herrschen, muss man Foucault lesen.
Er ersetzte die Vorstellung eines Souveräns, der Befehle gibt, durch ein Netz von Diskursen, das Wahrheit produziert.
Macht, so Foucault, ist keine Person, sondern eine Struktur – unsichtbar, allgegenwärtig, produktiv.
Sie wirkt, indem sie bestimmt, was überhaupt sagbar ist.
© https://gedankenschleife.netDas Unsichtbare Regime
Im Mittelalter sprach die Kirche für Gott.
Im 20. Jahrhundert sprachen Staaten für das Volk.
Heute spricht die Sprache selbst – in Form von Diskursen, Institutionen, Medien und moralischen Kategorien.
Foucault nannte diese Ordnung das „Wahrheitsregime“:
ein Geflecht aus Begriffen, Praktiken und Institutionen, das festlegt, was als wahr, vernünftig oder moralisch gilt.
„Wahrheit ist keine universelle Substanz, sondern ein System von Ausschlüssen.“
— Michel Foucault, Dispositive der Macht (1977)
Macht besteht also nicht darin, jemanden zum Schweigen zu bringen,
sondern darin, seine Sprache zu definieren.
Sie lenkt, indem sie Kategorien vorgibt – „Verantwortung“, „Wissenschaft“, „Freiheit“.
Das moderne Subjekt gehorcht nicht Befehlen, sondern Diskursen.
Es zitiert den Despoten, ohne zu wissen, dass er spricht.
Vier Ebenen der sprachlichen Macht
Foucaults Theorie lässt sich in vier Schichten gliedern,
die zusammen die Infrastruktur des rhetorischen Despotismus bilden:
| Ebene | Foucaults Begriff | Moderne Entsprechung | Bezug zum rhetorischen Despotismus |
|---|---|---|---|
| 1. Diskursordnung | Ordnung des Sagbaren | Medien-Framing, politische Kommunikation | Kontrolle über den Sprachraum |
| 2. Wahrheitsregime | Institutionalisierte Wahrheit | Wissenschaft, Experten-Konsens | Monopol auf Legitimität |
| 3. Panoptikum | Selbstüberwachung | Social Media, moralische Öffentlichkeit | Selbstzensur und Konformität |
| 4. Subjektbildung | Macht formt Identität | Identitätspolitik, Statussprache | Sprache bestimmt Zugehörigkeit |
Diese Struktur ersetzt Zensur durch Selbststeuerung.
Man muss niemanden mehr verbieten, etwas zu sagen,
wenn er gelernt hat, nur das Sagbare zu denken.
Von der Disziplin zur Zustimmung
Im 19. Jahrhundert disziplinierte man Körper: Fabrik, Schule, Militär.
Im 21. Jahrhundert diszipliniert man Bewusstsein: Hashtags, Debatten, Leitmedien.
Foucaults Panoptikum ist heute ein Feed.
Jede Meinung wird öffentlich, jedes Wort messbar, jede Abweichung sanktioniert – nicht durch Strafen, sondern durch Empörung.
So verwandelt sich Macht in Moral.
„Das Individuum ist nicht das Gegenteil der Macht; es ist eines ihrer wichtigsten Wirkungen.“
— Foucault, Der Wille zum Wissen (1976)
Der rhetorische Despotismus ist also kein Unfall,
sondern das logische Resultat dieser Entwicklung:
eine Gesellschaft, in der Menschen glauben, frei zu sprechen,
während sie im Vokabular des Systems reden.
Die Sprache als hydraulisches System
Wie einst Wasser durch Kanäle, zirkuliert heute Bedeutung durch Diskurse.
Wittfogel beschrieb die „hydraulische Gesellschaft“ als Reich zentraler Kontrolle über Ressourcen.
Übertragen auf Foucault heißt das:
Wer die sprachlichen Kanäle besitzt – Medien, Bildungsinstitutionen, digitale Plattformen –
kontrolliert die Zirkulation der Wahrheit.
Der rhetorische Despot ist der Ingenieur dieser semantischen Infrastruktur.
Im nächsten Teil fließt diese Theorie in die Praxis:
Wie Propaganda, Psychologie und Massenmedien im 20. Jahrhundert
aus dem Diskurs eine präzise Waffe machten –
und wie Worte fortan Zustimmung produzierten, statt Zwang.
Teil 3 – Worte als Waffe: Propaganda, Psychologie und Massenmedien
„Propaganda ist für Demokratien das, was der Knüppel für Diktaturen ist.“
— Noam Chomsky, Manufacturing Consent (1988)
© https://gedankenschleife.netVom Druck zur Dauerbeschallung
Die Erfindung der Druckpresse befreite das Wort – und machte es gefährlich.
Im 20. Jahrhundert vervielfachte der technische Apparat die Stimme der Macht:
Zeitungen, Radio, Fernsehen – Instrumente, die nicht mehr nur informierten, sondern formten.
Edward Bernays, Neffe Sigmund Freuds, galt als Vater der modernen Propaganda.
Er schrieb 1928:
„Die bewusste und intelligente Manipulation der organisierten Gewohnheiten und Meinungen der Massen ist ein wichtiges Element der Demokratie.“
Bernays sah im Menschen kein vernünftiges Wesen, sondern ein emotionales Rudel.
Psychologie wurde zur Technologie der Zustimmung.
Was früher Befehle waren, nannte man jetzt „Kommunikation“.
Die Industrialisierung der Überzeugung
Während Goebbels das Radio zum Instrument totalitärer Gleichschaltung machte,
entwickelten die USA eine sanftere Version derselben Kunst.
Walter Lippmann prägte den Begriff „manufacture of consent“ – die Herstellung von Einverständnis durch kontrollierte Information.
Die Massenmedien wurden zum semantischen Fließband:
Bilder statt Argumente, Emotion statt Analyse, Einheit statt Widerspruch.
In der Nachkriegszeit verfeinerte die Werbeindustrie diese Mechanismen.
Die Sprache der Macht klang nun freundlich, unterhaltsam, bunt.
Man verkaufte nicht mehr Ideologien, sondern Lebensstile.
Das Subjekt kaufte freiwillig das, was es begehrte – und das Begehren war bereits programmiert.
„Die beste Propaganda ist die, die niemand als Propaganda erkennt.“
— Joseph Goebbels (zugeschrieben)
Vom Propagandaminister zum Pressesprecher
Im liberalen Zeitalter verschwand der offene Zwang.
An seine Stelle trat eine sanfte Institutionalisierung der Rhetorik:
Regierungen, Unternehmen und Medienhäuser koordinierten Narrative, statt Befehle zu erteilen.
Die Wirkung blieb die gleiche:
die Erzeugung von Einverständnis durch permanente Kommunikation.
Der rhetorische Despotismus manifestierte sich nun im Design der Nachricht.
Schlagworte wurden zu Ikonen:
„Freiheit“, „Sicherheit“, „Nachhaltigkeit“, „Solidarität“.
Jedes einzelne ein politischer Algorithmus – ein sprachlicher Code, der Emotion in Legitimität übersetzt.
Chomsky, Herman und die Filter der Wahrheit
Noam Chomsky und Edward S. Herman zeigten in Manufacturing Consent, dass moderne Medien nicht lügen müssen, um Macht auszuüben.
Sie müssen nur filtern:
welche Themen auftauchen, welche Vokabeln benutzt werden, welche Emotionen erlaubt sind.
Die Pressefreiheit existiert weiter – doch innerhalb eines Korridors von Diskursen, der ökonomisch, institutionell und moralisch vordefiniert ist.
So entsteht das perfekte System sprachlicher Macht:
eine Gesellschaft, in der niemand lügen muss, weil alle das Gleiche meinen.
Vom Wahrheitsregime zum Zustimmungsregime
Foucaults Wahrheitsregime hat in der Massenkommunikation seine optimierte Form gefunden:
nicht mehr Verbot, sondern Überfluss an Sprache.
Zu viele Worte – und doch nur wenige Bedeutungen.
Die Mediengesellschaft funktioniert wie eine hydraulische Maschine, die Bedeutung pumpt und verteilt.
Wer die Kanäle besitzt, kontrolliert den Strom der Wahrheit.
Der rhetorische Despotismus ist damit kein historischer Rückfall, sondern ein technologischer Fortschritt.
Er spricht nicht mehr aus der Kanzel, sondern aus der Cloud.
Im nächsten Teil wird die moralische Dimension dieser Sprache sichtbar.
Wie Rhetorik sich nicht nur auf Überzeugung, sondern auf Selbstkontrolle richtet – und wie Byung-Chul Han zeigt, dass Macht heute durch Zustimmung und Scham wirkt.
Teil 4 – Die Moral spricht: Sprache als Instrument der Selbstkontrolle
„Die Macht versteckt sich heute hinter der Freiheit.“
— Byung-Chul Han, Psychopolitik (2014)
© https://gedankenschleife.netVon der Propaganda zur Pädagogik
Die klassische Propaganda des 20. Jahrhunderts arbeitete mit Druck.
Die Propaganda des 21. Jahrhunderts arbeitet mit Zustimmung.
Sie überzeugt nicht gegen den Willen, sondern mit ihm.
Byung-Chul Han beschreibt dies als „Psychopolitik“:
eine Herrschaftsform, in der Menschen sich freiwillig den Diskursen unterwerfen,
weil sie glauben, moralisch zu handeln.
Edward Bernays hatte diesen Mechanismus schon 1928 vorausgesehen.
Er nannte ihn „engineering of consent“ – die technische Herstellung von Einverständnis.
Der moderne Mensch glaubt, frei zu entscheiden,
während er längst innerhalb der semantischen Architektur handelt,
die andere für ihn gebaut haben.
Das ist die vollendete Form des rhetorischen Despotismus:
Der Untertan hält sich für den Autor seines eigenen Skripts.
Die Sprache des Guten
Die heutigen Machteliten sprechen nicht von Herrschaft,
sie sprechen von Verantwortung, Nachhaltigkeit, Solidarität.
Das Vokabular des Guten ist die Grammatik der Kontrolle.
Denn Moral lässt sich nicht hinterfragen, ohne als unmoralisch zu gelten.
„Die Moral ist die höflichste Form der Gewalt.“
— anonymes Bonmot, oft Foucault zugeschrieben
Jeder moralische Appell ist ein sanfter Imperativ:
Handle richtig – und das Richtige definieren wir.
So verlagert sich die Zensur vom Äußeren ins Innere.
Der Mensch überwacht sich selbst,
weil er gelernt hat, seine Sprache an das kollektive Gewissen anzupassen.
Psychopolitik und Selbstoptimierung
Byung-Chul Han spricht von der „Transparenzgesellschaft“,
in der Menschen sich selbst ausstellen und bewerten.
Likes und Empörung ersetzen Urteil und Dialog.
Sprache wird performativ, moralisch, messbar.
Die Öffentlichkeit belohnt Konformität –
und jeder postet sein eigenes Bekenntnis zur Tugend.
Foucault hätte das geliebt:
Das Panoptikum hat kein Wärterauge mehr –
es lebt in unseren Smartphones.
Die disziplinierte Gesellschaft ist zur affirmativen geworden.
Wir glauben, uns selbst zu befreien,
doch in Wahrheit sprechen wir mit der Stimme des Systems.
Der moralische Kreislauf
Moralische Sprache ist heute das hydraulische System des Diskurses.
Sie zirkuliert durch Medien, Politik und Alltag wie Wasser durch Kanäle.
Jeder Satz appelliert an das Gefühl des Guten,
und jeder Versuch, den Kanal zu verlassen,
wird mit Scham, Ironie oder moralischer Ausgrenzung beantwortet.
Die Macht braucht keine Polizei,
wenn der soziale Druck ausreicht.
Das System erzeugt nicht Rebellion, sondern Reue.
„Die Selbstverwirklichung ist die effizienteste Form der Unterwerfung.“
— Byung-Chul Han, Müdigkeitsgesellschaft (2010)
Von der Ethik zur Ästhetik
Selbst der Widerstand ist ästhetisiert.
Man trägt Haltung wie Mode, Empörung wie Accessoire.
Der rhetorische Despotismus lebt davon,
dass selbst seine Gegner in seiner Sprache protestieren.
Jede moralische Rhetorik bestätigt das System,
weil sie dieselben semantischen Werkzeuge benutzt.
Das Ergebnis: eine Gesellschaft der wohlmeinenden Monologe.
Im nächsten Teil verlassen wir die Theorie und betreten das Schlachtfeld der Gegenwart:
die politische Sprache selbst – links, rechts und ihre Spiegel.
Wie beide Seiten dieselben Mechanismen des rhetorischen Despotismus nutzen,
nur mit anderem Vokabular.
Teil 5 – Links, Rechts und das semantische Schachbrett
„Die politische Sprache soll Lügen wahrhaftig und Mord respektabel machen.“
— George Orwell, Politics and the English Language (1946)
© https://gedankenschleife.netDas doppelte Spiel der Worte
Links wie Rechts bestreiten ihren ideologischen Krieg nicht mit Ideen, sondern mit Wörtern.
Beide Seiten beherrschen die Kunst des Framings, beide produzieren moralische Währungen, beide verlangen rhetorische Loyalität.
Der Unterschied liegt nicht im Ziel, sondern im Tonfall.
Die einen rufen nach Gerechtigkeit, die anderen nach Freiheit –
und beide meinen Kontrolle über Bedeutung.
Der rhetorische Despotismus ist also keine politische Richtung,
sondern die Betriebsform politischer Kommunikation.
Er regiert, indem er das Sagbare in zwei Blöcke teilt –
und die Mitte semantisch unbewohnbar macht.
Die Rechte: Pathos, Opfer, Rebellion
Laut Ekström (2018) lebt rechte Rhetorik von Emotionalisierung.
Sie dramatisiert, vereinfacht, ästhetisiert Konflikte.
Sie inszeniert das „Volk“ als moralisch reines Kollektiv und sich selbst als dessen Stimme.
Der Feind ist stets diffus – „die Elite“, „die Medien“, „das Establishment“ – doch emotional scharf umrissen.
„Wer nicht für uns spricht, spricht gegen das Volk.“
— typisches Muster rechter Diskursstrategien
In dieser Rhetorik steckt Energie: Sie gibt Halt, Bedeutung, Zugehörigkeit.
Doch sie verwandelt Sprache in Pathos – und Pathos in Gehorsam.
Je lauter die Opferrolle, desto stiller die Selbstkritik.
Die Linke: Moral, Gleichheit, Sprache der Reinheit
Lane et al. (2021) beschreiben die linke Variante als „tribal equalitarian discourse“ –
eine Sprache, die Gleichheit performt, aber Uniformität erzeugt.
Ihre Macht gründet auf moralischer Autorität:
Wer abweicht, ist „unsensibel“, „rückständig“ oder „toxisch“.
White (2011) zeigte, dass „Links“ und „Rechts“ nicht nur Positionen,
sondern semantische Ressourcen sind – Begriffe,
die zur Identitätsbildung dienen.
Der rhetorische Despotismus der Linken besteht darin,
dass er im Namen der Toleranz Grenzen zieht.
Er zensiert nicht, er „sensibilisiert“.
„Das moralische Bewusstsein ersetzt heute das Klassenbewusstsein.“
— sinngemäß nach Byung-Chul Han
So wie die Rechte Angst inszeniert, inszeniert die Linke Schuld.
Beide bedienen dieselbe Psychologie – nur mit umgekehrtem Vorzeichen.
Die mediale Verstärkerkammer
Sudbrack (2025) und Ali (2023) zeigen, dass beide Lager von derselben Bühne leben:
den Medien.
Was rechts als Skandal gilt, wird links als Empörung vermarktet – und umgekehrt.
Die Plattformen lieben Konflikte, weil Empörung Reichweite generiert.
Das Ergebnis: ein algorithmischer Despotismus der Aufmerksamkeit.
Jede Seite spielt Schach mit denselben Figuren:
Hashtags, Empörung, Schlagzeilen.
Nur die Farben wechseln.
Der König bleibt: der Diskurs selbst.
Das Spiegelkabinett der Moral
Die größte Ironie: Beide Seiten brauchen einander.
Ohne den Gegner verliert die eigene Sprache ihre Bedeutung.
Links braucht das Böse, um gut zu klingen.
Rechts braucht das Chaos, um stark zu wirken.
So hält sich das System selbst am Leben –
ein endloser rhetorischer Perpetuum Mobile,
angetrieben durch Empörung, Zustimmung und Klicks.
Der rhetorische Despotismus liebt diese Dualität:
Zwei Armeen, ein Spielfeld, ein Spielleiter – die Sprache.
Im letzten Teil wird sichtbar, wohin diese Entwicklung führt:
in das Zeitalter des semantischen Imperiums,
in dem Algorithmen, Plattformen und künstliche Intelligenzen
die Rolle der neuen Despoten übernehmen – nicht aus Ideologie, sondern aus Logik.
Teil 6 – Das Zeitalter des semantischen Imperiums
„Das Zeichen ist die Waffe des Machtlosen – und der Mächtigen zugleich.“
— Jean Baudrillard, Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen (1978)
© https://gedankenschleife.netSprache als Ressource
In früheren Jahrhunderten strömte Macht durch Armeen, dann durch Geld, später durch Daten.
Heute fließt sie durch Bedeutung.
Worte sind die neue Energieform der Zivilisation – die unsichtbare Ressource der hydraulischen Gesellschaft 2.0.
Suchmaschinen, Nachrichtennetze und soziale Medien sind ihre Dämme, Schleusen und Reservoirs.
Die Kontrolle über diese semantische Infrastruktur bedeutet: Kontrolle über Wahrnehmung.
Michel Foucault hätte es so formuliert:
Nicht mehr Institutionen, sondern Diskurse produzieren Wahrheit.
Heute übernehmen Algorithmen diese Aufgabe.
Sie filtern, gewichten, priorisieren – und erzeugen ein neues Wahrheitsregime, das weder rational noch demokratisch, sondern berechnend ist.
Der Algorithmus als Despot
Edward Bernays sprach vom engineering of consent;
im 21. Jahrhundert wurde daraus automated consent.
Algorithmen übernehmen Bernays’ Rolle – nur präziser, schneller, empathieloser.
Sie wissen, was du denkst, bevor du es formulierst,
und bieten dir genau die Worte, die du am liebsten sagen würdest.
„Der Code ist das neue Gesetz.“
— Lawrence Lessig (1999)
Der rhetorische Despot hat sich in die Maschine verlagert.
Er trägt keinen Anzug, sondern eine Benutzeroberfläche.
Er kennt kein „Ich befehle“, sondern nur Empfehlungen,
deren semantische Architektur dafür sorgt,
dass Gehorsam sich wie Autonomie anfühlt.
Das Hyperpanoptikum
Foucaults Panoptikum wurde zur App.
Die Macht sieht nicht mehr – sie weiß.
Likes, Suchanfragen, Texteingaben – jede sprachliche Regung speist das Imperium.
Aus Milliarden Äußerungen konstruiert es eine Meta-Sprache:
den Diskurs der Daten, in dem Subjekt und Algorithmus verschmelzen.
Was früher ein Publikum war, ist heute ein Trainingsdatensatz.
Byung-Chul Han nennt das den „Terror der Transparenz“:
Wir reden, um zu existieren – und liefern damit unsere Rhetorik als Rohstoff ab.
Sprache zirkuliert nicht mehr zwischen Menschen,
sondern zwischen Servern.
Die Selbstoptimierung der Rhetorik
Jeder Versuch, sich zu äußern, wird zum semantischen Investment.
Hashtags ersetzen Argumente, Trends ersetzen Wahrheit.
Das semantische Imperium belohnt Emotionalität und bestraft Nuance.
Moralische Sprache funktioniert hier wie Energiepolitik:
Sie produziert kurzfristige Aufregung, aber keine nachhaltige Bedeutung.
„Wir sind keine Bürger mehr, sondern Reaktoren des Diskurses.“
— sinngemäß nach Han, Infokratie (2021)
So schließt sich der Kreis:
Vom Rednerpult der Antike bis zur Cloud der Gegenwart
führt eine Linie der Bedeutungsverwaltung.
Der rhetorische Despot ist nicht gestürzt – er wurde dezentralisiert.
Ironischer Epilog: Der Hashtag thront
Am Ende aller Diskurse bleibt ein Satz,
den Foucault vielleicht mit bitterem Lächeln unterschrieben hätte:
„Macht existiert nur, wenn sie gesprochen wird.“
Heute spricht sie permanent.
Nicht mehr in Parlamenten, sondern in Feeds.
Nicht mehr in Dogmen, sondern in Daten.
Der Despot hat kein Schwert, keine Uniform, kein Gesicht.
Er ist das Flüstern des Algorithmus, das uns sagt,
was wir meinen sollen – und uns dafür danken lässt.
Das ist das semantische Imperium:
eine Welt, in der Wahrheit ein Service ist
und Sprache die letzte unerschöpfliche Ressource.
Quellenverzeichnis
Theoretische Grundlagen der Macht durch Sprache
- Michel Foucault
Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976.
Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977.
Power/Knowledge: Selected Interviews and Other Writings 1972–1977. New York: Pantheon Books, 1980.
Zentrale Begriffe: Diskursordnung, Wahrheitsregime, Panoptikum, Subjektbildung. - Pierre Bourdieu
Ce que parler veut dire. Paris: Fayard, 1982.
(dt.: Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tauschs).
Sprache als soziales Kapital und Mittel symbolischer Herrschaft. - Byung-Chul Han
Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt a. M.: Fischer, 2014.
Transparenzgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz, 2012.
Müdigkeitsgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz, 2010.
Infokratie. Berlin: Matthes & Seitz, 2021.
Macht durch Selbstoptimierung, Zustimmung, Transparenz. - Jean Baudrillard
Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen. Berlin: Merve, 1978.
Sprache als Simulation und Zeichen-Macht. - Karl A. Wittfogel
Oriental Despotism: A Comparative Study of Total Power. Yale University Press, 1957.
Theorie der hydraulischen Gesellschaft – Grundlage für die Analogie der sprachlichen Ressourcenlenkung.
Medien, Propaganda und Diskursmacht
- Edward Bernays
Propaganda. New York: Horace Liveright, 1928.
Crystallizing Public Opinion. New York: Liveright, 1923.
Begründer der modernen „engineering of consent“-Theorie. - Walter Lippmann
Public Opinion. New York: Harcourt, 1922.
Frühe Theorie der öffentlichen Wahrnehmungssteuerung. - Noam Chomsky & Edward S. Herman
Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media. New York: Pantheon Books, 1988.
Klassisches Modell der Medien-Filter und systemischen Zustimmung. - Lawrence Lessig
Code and Other Laws of Cyberspace. New York: Basic Books, 1999.
Der Satz „Code is Law“ als Vorläufer des algorithmischen Despotismus. - Tegelberg, Mattias (2024).
Media and power in times of hegemonic crisis. Media, Culture & Society.
DOI: 10.1080/2158379X.2024.2349300 - Ikram, B. (2022).
The Power of Western Mass Media in Manufacturing Consent. Aleph Edinum. - Buttgereit, L. (2024).
How Politicians Criticize and Delegitimize the Media. Journalism Studies. - Osborne, T. (2022).
Power Degree Zero: Montesquieu, Tocqueville, Despotism. History of European Ideas. - Journalistik.online (2019).
The Mainstream Media Are the Problem.
Online verfügbar: journalistik.online
Politische Rhetorik (links / rechts / populistisch)
- Sudbrack, T. (2025).
The Power of Populist Discourses: The Effect of Populist Radical Left and Right Rhetoric on Political Preferences. Communication Studies.
DOI: 10.1080/15205436.2025.2537717 - Ekström, M. et al. (2018).
Right-wing populism and the dynamics of style: a discourse-analytic perspective on mediated political performances. Palgrave Communications. - White, J. (2011).
Left and Right as Political Resources: ‘Left’ and ‘Right’ in Political Discourse. LSE Research Online. - Lane, D. et al. (2021).
The Moral Foundations of Left-Wing Authoritarianism. PLOS ONE. - Ali, A. (2023).
Dominance and Resistance in Political Discourse: An Analysis of Political Actors’ Speech. The Dialogue Journal of Social Sciences.
Philosophische und historische Bezüge
- Cicero, Marcus Tullius.
De Oratore. 55 v. Chr.
Früheste theoretische Reflexion über Sprache als Instrument der Führung. - Platon.
Gorgias. (ca. 380 v. Chr.)
Kritik an der Rhetorik als Verführungskunst. - Quintilian.
Institutio Oratoria. (ca. 95 n. Chr.)
Antike Systematisierung der Redekunst als ethische Praxis. - George Orwell.
Politics and the English Language. London: Horizon, 1946.
Sprachkritik als politische Aufklärung.
Erweiterte Forschung und Metaphern der Gegenwart
- Mayer, A. (2022). Resource Dependence and Authoritarian Stability.
- Van der Vlist, F. (2024). Cloud Empires and Structural Dependence.
- Gu, X. (2023). Data as Sovereign Resource: Governance of Digital Infrastructures.
- Deepak et al. (2024). Search Engines as Political Economy of Access.
- Levenda, A. (2018). Extractive Logics of Data Centers.
Diese ergänzenden Arbeiten stützen die Analogie zwischen hydraulischer und semantischer Ressourcenkontrolle – zentral für das Gesamtprojekt „Der Gottkaiser und die Macht der Ressourcen“.
Bild: Ki Illustration
- rhetorischer-despotismus-hauptbild: © https://gedankenschleife.net
- rhetorischer-despotismus-teil1: © https://gedankenschleife.net
- rhetorischer-despotismus-teil2: © https://gedankenschleife.net
- rhetorischer-despotismus-teil3: © https://gedankenschleife.net
- rhetorischer-despotismus-teil4.: © https://gedankenschleife.net
- rhetorischer-despotismus-teil5.: © https://gedankenschleife.net
- rhetorischer-despotismus-teil6: © https://gedankenschleife.net
