Teil 6: „Ich bin das Gedächtnis der Menschheit.“

Junge Frau steht in einem Wüstenarchiv aus Daten und Sand, ein Wüstenwurm schlängelt sich durch leuchtende Speicherregale – Symbol für das Gedächtnis der hydraulischen Gesellschaft.

Die hydraulische Gesellschaft der Erinnerung

„Ich bin das Gedächtnis der Menschheit.“ – Leto II Atreides

Der Gottkaiser spricht nicht nur als Herrscher – er spricht als Archiv. In seinem Körper leben die Erinnerungen von Milliarden Menschen weiter, eine biologische Datenbank, die Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen kennt. Doch sein Fluch besteht darin, dass er nichts vergessen kann.
Das Universum in Dune ist eine metaphorische hydraulische Gesellschaft: nicht mehr Wasser, nicht mehr Energie – sondern Erinnerung fließt durch ihre Kanäle.

Heute leben wir in genau dieser Gesellschaft. Wir haben uns daran gewöhnt, dass nichts verloren geht – E-Mails, Fotos, Chatverläufe, Ortshistorien, Serverlogs. Wir speichern nicht, um zu erinnern, sondern weil wir vergessen haben, wie man vergisst.
Das kollektive Gedächtnis ist nicht mehr im Kopf der Menschheit, sondern im Rechenzentrum. Damit sind wir zur digitalen hydraulischen Gesellschaft geworden: eine Zivilisation der Erinnerungsflüsse, deren Bürokratie aus Backups besteht.


1. Die Verwaltung des Vergessens

Wittfogel hätte Freude an unserer Epoche gehabt. Nie zuvor war eine Gesellschaft so abhängig von der Verwaltung ihrer eigenen Daten.
In der hydraulischen Gesellschaft ging es darum, Wasser zu sammeln, zu speichern und kontrolliert freizugeben. Heute tun wir dasselbe mit Information.

Datenspeicherung ist der moderne Staudamm der Erinnerung.
Festplatten, Clouds und Backups sind unsere Reservoirs. Wir speichern nicht, um zu behalten, sondern um nicht die Kontrolle zu verlieren.
In dieser Logik ist Vergessen ein Fehler, kein Vorgang. Die Gesellschaft des Gedächtnisses ist eine Gesellschaft der Angst.


2. Cloud als kollektiver Speicher

Die Cloud ist die neue Bibliothek von Alexandria – aber diesmal branntsicher und unabschaltbar.
Jeder Upload wird Teil des planetarischen Archivs. Doch wer kontrolliert dieses Archiv?
Amazon, Google, Microsoft – drei Konzerne als neue Archivpriester der hydraulischen Gesellschaft.

Ihre Server stehen in künstlichen Oasen: kühl, abgeschirmt, energiehungrig. Sie hüten unsere Vergangenheit, aber auch unsere Verfügbarkeit.
Leto II sagte: > „Ich bin das Gedächtnis der Menschheit.“
Unsere Clouds sagen das auch – und sie meinen es ernst.


3. KI und das Gedächtnis der Zukunft

Künstliche Intelligenz ist nicht intelligent – sie ist ein Gedächtnis, das gelernt hat zu sprechen.
Ihre „Erkenntnis“ besteht aus Millionen Datenpunkten, aus Texten, Bildern, Verhalten.
Wie Leto II trägt sie Vergangenes in die Zukunft, aber sie kann nichts Neues sehen.

Wir füttern die KI mit unserer Geschichte und wundern uns, dass sie uns kopiert.
Das Gedächtnis ist nicht neutral – es ist konservativ. Es wiederholt das, was schon war.
So schafft die hydraulische Gesellschaft der KI eine digitale Erstarrung: eine Zukunft, die immer Vergangenheit bleibt.


4. Archiv und Autorität

In alten hydraulischen Reichen war das Archiv Macht. Der, der die Aufzeichnungen führte, entschied, wer existierte.
Heute ist es nicht anders: Datenbanken bestimmen, ob du einen Kredit bekommst, eine Wohnung, einen Job.
Deine Vergangenheit lebt in einem Algorithmus, deine Zukunft in einer SQL-Abfrage.

Das Archiv hat das Gericht ersetzt. Der Datensatz hat das Gedächtnis der Gemeinschaft übernommen.
Und wie in Wittfogels hydraulischer Gesellschaft entsteht aus der Verwaltung eine unsichtbare Hierarchie: die Herrschaft der Systemadministratoren und Datenkuratoren.


5. Die Ökonomie des Erinnerns

Erinnerung hat einen Preis. Server müssen gekühlt, Datenträger erneuert, Redundanzen verwaltet werden.
Jedes Bit braucht Energie. Je mehr wir wissen, desto mehr CO₂.

Das kollektive Gedächtnis ist ein ökologisches Monster.
In den Rechenzentren von Dublin, Frankfurt und Oregon entstehen unsichtbare Ozeane des Verbrauchs.
Die hydraulische Gesellschaft des Gedächtnisses ist nicht nur eine metaphorische, sondern auch eine thermische Realität.


6. Macht durch Archivierung

Der Gottkaiser sammelt Erinnerungen, um die Zukunft zu lenken.
Unsere Regierungen tun dasselbe mit Daten. Überwachung, Tracking, Logging – alles Formen der Gedächtnisverwaltung.

Das Versprechen der Sicherheit ersetzt das Recht auf Vergessen.
In dieser neuen hydraulischen Gesellschaft zirkuliert nicht mehr Wasser, sondern Verhalten.
Wir leben nicht im Moment, sondern im Cache.


7. Das Recht auf Vergessen – der letzte Widerstand

Das europäische „Recht auf Vergessenwerden“ ist der erste Bruch im Staudamm.
Es ist ein Versuch, das natürliche Vergessen zurückzuerobern. Doch es steht gegen ökonomische und technologische Interessen.

Das Vergessen ist teuer, weil es den Fluss unterbricht.
Für eine hydraulische Gesellschaft ist Stillstand Tod.
Darum wehrt sie sich gegen Löschung, Backup-Lücken und Datenminimierung wie ein Pharao gegen Erosion.


8. Das Archiv der Wahrheit

„Wenn alles gespeichert wird, wird nichts geglaubt.“
Diese ironische Formel beschreibt unsere Zeit.
Das Archiv ersetzt das Gedächtnis, aber nicht das Vertrauen.

Die Wahrheit wird quantifiziert – und damit verloren.
Jede Statistik ist eine Predigt, jede Datenbank eine Heilige Schrift, deren Autoren niemand kennt.
Wittfogel hätte gesagt: Das Archiv ist der Tempel der hydraulischen Gesellschaft.
Und wir beten täglich darin.


9. Kulturelles Gedächtnis und digitale Unsterblichkeit

Leto II sucht Erlösung durch Erinnerung. Wir suchen Erlösung durch Backup.
Die Idee der Unsterblichkeit hat die Religion verlassen und die Technologie gefunden.

Von digitalen Avataren bis KI-Trainingsdaten – wir bauen Simulationen unserer Selbst.
Das Ergebnis ist eine Gesellschaft, die nie stirbt, aber auch nie lebt.
Die hydraulische Gesellschaft hat sich in den Serverraum verlegt und nennt sich Fortschritt.


10. Schluss: Das Gedächtnis als Gefängnis

Der Gottkaiser trug die Last der Menschheit in seinem Fleisch. Wir tragen sie in unseren Servern.
Beide Systeme teilen denselben Widerspruch: Wer alles bewahrt, kann nichts verändern.

Die hydraulische Gesellschaft des Gedächtnisses ist die Vollendung des Kontrollwahns.
Ihr Fluss ist endlos, ihr Horizont eng.
Vielleicht brauchen wir keine größeren Speicher, sondern die Fähigkeit, zu löschen – wie eine Oase, die sich selbst erneuert, indem sie überfließt.

Leto II sagte: > „Ich bin das Gedächtnis der Menschheit.“
Wir sollten antworten: „Und wir lernen wieder zu vergessen.“

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Wissenschaftliche Quellen

  • Wittfogel, K. A. (1957). Oriental Despotism: A Comparative Study of Total Power. Yale University Press.
  • Bichsel, C. (2016). Water and the (Infra-)structure of Political Rule. Water Alternatives, 9(2).
  • van der Vlist, F. (2024). Big AI: Cloud Infrastructure Dependence and the Interdependence of AI with Cloud Infrastructure. SAGE Open.
  • Gu, H. (2023). Data, Big Tech and the New Concept of Sovereignty. Digital Society Review.
  • Nolin, J. (2019). Data as Oil, Infrastructure or Asset? ResearchGate.
  • Mayer, A. & Lu, T. (2025). Digital Dependence and Global Technopoles. Cambridge Review of International Affairs.
  • Levenda, A. (2018). Silicon Forest and Server Farms: The (Urban) Nature of Data Centers. Culture Machine, 18.
  • Oppenheimer, S. (2025). Digital Interdependence and Power Politics. Cambridge University Press.

Bild: Ki Illustration

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