Kontrolle über Infrastruktur als Ursprung der Macht
„Ich halte den Fluss an, und die Welt erstarrt.“ – Leto II Atreides
Wenn Frank Herberts gottähnlicher Imperator diesen Satz spricht, meint er nicht nur den Fluss des Spice – er meint den Fluss des Lebens selbst. Er kontrolliert das, was alle brauchen, aber keiner ersetzen kann. Damit definiert er das Prinzip jeder hydraulischen Gesellschaft: Wer die Ströme lenkt – ob Wasser, Energie oder Daten – beherrscht jene, die davon abhängen.
Karl A. Wittfogel nannte das 1957 in seinem Klassiker Oriental Despotism die „hydraulische Zivilisation“. Damals ging es um Dämme, Schleusen und Bewässerungsnetze – heute geht es um Stromtrassen, Pipelines und Rechenzentren. Die Flüsse sind unsichtbarer geworden, aber nicht weniger mächtig.
Von Wasser zu Elektronen – die Logik des Flusses
In Wittfogels Analyse entstehen dort autoritäre Systeme, wo lebenswichtige Infrastruktur zentral geplant und verwaltet werden muss. Denn wer Bewässerung kontrolliert, kontrolliert Ernte, Nahrung, Arbeit – kurz: das Leben. Das war in Ägypten so, in Mesopotamien und im alten China.
Heute läuft das über andere Leitungen:
- Kupferadern statt Kanäle,
- Datenpakete statt Bewässerungswasser,
- Stromnetze statt Flussdämme.
Doch das Muster bleibt identisch: Je zentraler der Fluss, desto größer der Zwang zur Gehorsamkeit.
Wir hängen am Tropf der Stromnetze, der Gasimporte, der Cloud-Server. Der Unterschied: Wir nennen es „Innovation“.
Das Prinzip der Abhängigkeit
Ökonomen beschreiben Infrastruktur gern als „kritisch“. Das klingt neutral, ist es aber nicht. Denn „kritisch“ heißt: Wenn sie ausfällt, bricht alles zusammen. Diese Verwundbarkeit erzeugt Macht. Und Macht erzeugt Verhalten – das ist die psychologische Komponente, die Leto II so hellsichtig formuliert:
„Die Waffe zwingt den Besitzer in ein Verhaltensmuster.“
Das gilt für Staaten ebenso wie für Konzerne. Wer über eine zentrale Ressource verfügt, muss sie politisch nutzen, um die Kontrolle zu behalten. So entsteht die paradoxe Logik des Ressourcenbesitzes: Je größer die Kontrolle, desto enger die Fessel.
Saudi-Arabien kann vom Öl nicht lassen, obwohl es seine Abhängigkeit kennt.
Europa kann von russischem Gas nicht unabhängig werden, ohne sich selbst zu gefährden.
Und westliche Regierungen können kaum noch von amerikanischen Cloud-Anbietern loslösen, ohne ihre Verwaltung lahmzulegen.
Willkommen in der postmodernen hydraulischen Gesellschaft.
Hydraulische Macht 2.0 – Infrastruktur als Herrschaft
In der klassischen hydraulischen Ordnung war die Bürokratie der Damm: eine Verwaltungsmaschine, die den Fluss reguliert. Heute übernehmen diese Funktion Algorithmen, Regulierungsbehörden und APIs.
- Staatliche Macht: Energie- und Netzregulierer definieren Preise, Zugänge und Prioritäten.
- Unternehmerische Macht: Hyperscaler (AWS, Azure, Google Cloud) besitzen physisch die Kanäle, durch die digitale Wirtschaft fließt.
- Kulturelle Macht: Suchmaschinen entscheiden, welche Ideen sichtbar bleiben.
Das Ergebnis ist ein feudal-digitales Wassersystem: Jeder Nutzer ist Bauer, jeder Konzern ein Bewässerungsfürst.
Der energetische Schatten der Digitalisierung
Auch die Cloud braucht Wasser – im wörtlichen Sinn. Rechenzentren verbrauchen Millionen Liter Kühlwasser täglich und verschlingen Energie wie mittlere Städte. Jeder KI-Prompt, jeder Streaming-Dienst, jeder Blockchain-Block hat einen hydraulischen Fußabdruck.
Der Unterschied zur Antike liegt nicht in der Logik, sondern im Maßstab:
Die Dämme von gestern heißen heute „Server Farms“. Die Bewässerungssysteme von Babylon sind jetzt Glasfaser-Netze, deren Flüsse aus Strom bestehen.
Die Cloud ist nichts anderes als ein digitalisierter Fluss mit industrieller Temperatur.
Politische Ökonomie der Flüsse
Karl Wittfogel argumentierte, dass zentrale Wasserverwaltung unweigerlich zu bürokratischer Tyrannei führe. Die moderne Variante nennt sich „technokratische Steuerung“. Sie klingt smarter, ist aber genauso autoritär – nur effizienter verschleiert.
Wenn Strommärkte in Echtzeit reguliert, Strompreise algorithmisch kalkuliert und Cloud-Dienste über proprietäre Schnittstellen angeboten werden, entsteht eine unsichtbare Bürokratie der Flüsse.
Sie arbeitet nicht in Ministerien, sondern in Datenzentren. Sie erlässt keine Gesetze, sondern AGB.
Von Damm zu Datenbank – der Mensch als Ventil
Leto II war der Damm selbst: ein Wesen, das den Fluss verkörperte. In unserer Gegenwart ist das Damm-Subjekt ein hybrides Gebilde aus Mensch, Code und Konzern.
Wir alle regulieren kleine Ströme – durch Klicks, Likes, Käufe – und erzeugen dabei neue Daten, die wiederum durch andere Dämme fließen.
Das System ist selbst-stabilisierend:
- Mehr Nutzung → mehr Daten → mehr Kontrolle → mehr Nutzung.
Ein hydraulischer Kreislauf, perfektioniert durch digitale Feedback-Schleifen.
Der Imperator in der Steckdose
Betrachte dein Smart-Home: Lampen, Heizung, Sprachassistent – alles fließt durch zentrale Server. Wenn der Strom ausfällt, steht nicht nur das Licht still, sondern auch der Alltag.
Wenn Amazon oder Google eine Cloud-Region abschalten, können Behörden, Kliniken und Firmen in ganzen Ländern ihre Arbeit nicht fortsetzen.
Das ist kein Szenario, das ist Routine. Und es ist exakt das, was Wittfogel „hydraulische Verwundbarkeit“ nannte: Eine Gesellschaft, deren Existenz an den reibungslosen Fluss einer zentral verwalteten Ressource gebunden ist.
Das Fluss-Dilemma
Die zentrale Frage lautet: Wie viel Fluss kann eine Gesellschaft ertragen, bevor sie erstarrt?
Denn totale Effizienz führt zu totaler Fragilität.
Wenn jeder Tropfen Daten, jeder Watt Strom, jedes Byte Cloud-Speicher zentral orchestriert wird, entsteht ein System, das weder lokal resilient noch politisch plural ist.
Die moderne Gesellschaft ist nicht weniger „hydraulisch“ als jene des Alten Ägypten – sie ist nur komplexer verschlaucht.
Vom Fluss zur Flut – und zurück
Herberts Gottkaiser wusste, dass absolute Kontrolle nur scheinbare Stabilität bringt. Deshalb sein paradoxes Ziel: Stabilität durch Stillstand, bis Chaos wieder möglich wird.
Unsere Moderne gleicht diesem Zustand: Wir halten alles in Bewegung, um nichts verändern zu müssen. Energie, Daten, Kapital – ständige Zirkulation ersetzt Entwicklung.
Doch irgendwann kippt jeder Fluss in eine Flut. Stromnetze überlasten, Datennetze kollabieren, Staaten verlieren Steuerung.
Der Moment, in dem „der Fluss anhält“, ist kein hypothetisches Zukunftsszenario – er steht in jeder kritischen Infrastrukturplanung.
Schluss: Der Preis des Flusses
Die hydraulische Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist global, vernetzt und elektrisch. Sie hat keine Pyramiden, aber Rechenzentren; keine Priester, aber Administratoren. Und wie Leto II glauben ihre Lenker, die Kontrolle sei eine moralische Pflicht.
Doch jede Kontrolle gebiert Zwang – und jeder Zwang erzeugt den Wunsch nach Auflösung.
Wer den Fluss beherrscht, verliert die Freiheit, anders zu handeln.
Darum endet auch dieser erste Teil mit der Frage, die Leto II in jeder Epoche stellt:
Wie viel Macht über die Flüsse können wir uns leisten, bevor sie uns verschlingen?
Bild: Ki Illustration
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